Den Drachen besiegen

 

Drachen gibt es bekanntlich nur in Märchen und Sagen. Es war einmal, so beginnt das Märchen,

da tötete der Prinz den Drachen, befreite die Prinzessin und beide lebten glücklich bis an ihr

Lebensende in prächtigen Schlössern und feierten glanzvolle Feste. Einst, so lehrt uns die Sage,

besiegte der Ritter den Drachen, um den Schatz zu erlangen, und badete anschließend, mit dem

Ziel unverwundbar zu werden, in seinem Blut. Der Plan ging nicht auf und die Schuld daran trägt

das Lindenblatt. So wissen wir wenigstens, woran es liegt, dass wir noch immer verwundbar sind.

Zumindest aber, so viel lässt sich wohl mit Sicherheit sagen, gibt es in unserer Welt keinen

Drachen mehr. Er ist längst verblutet und wir haben ihn als Bild einer überspannten Phantasie aus

unserem Leben und Denken verbannt. Heute existieren Drachen nur noch in den Geschichten, die

wir unseren Kindern erzählen und an die kein vernünftiger Mensch mehr glaubt. Da sind sie

teilweise auch schon recht putzige und niedliche Gesellen geworden.

Der Drache bestürzt uns nicht mehr.

Oder doch?

Der Drache ist überall.

 

Es gibt Wahrheiten, hinter die ich nicht zurückgehen kann, Überzeugungen, die unantastbar sind

und mein Leben leiten. Das ist gut so und richtig. Bedauerlicherweise aber gibt es außerhalb

meiner selbst auch Wahrheiten, die nicht meiner eigenen Überzeugung entspringen. Wahrheiten,

die andere Menschen für sich finden und denen sie folgen. Diese Wahrheiten, die ich natürlich am

liebsten gar nicht als solche bezeichnen, sondern viel lieber als Hirngespinste und Unwahrheiten

abtun möchte, haben zunächst mit meiner Entscheidung darüber, wie ich mich zu mir selbst und

meiner Umgebung stelle, nichts zu tun. Dennoch üben sie ihre Wirkung auf mein Leben aus. Im

besten Falle weisen sie mir eine neue Richtung auf, in die ich mit dem Anderen - oder auch ohne

ihn - gehen kann. Aber die Wahrheiten, mit denen der Andere mit entgegentritt, können mich

auch lähmen, binden und schwächen. Und meistens tun sie Letzteres, dummer- und irgendwie

ungerechterweise. Denn ich habe doch eigentlich gar nichts mit ihnen zu tun. Und außerdem: das

habe ich doch nun wirklich nicht verdient.

Oder?

 

Wenn verschiedene Wahrheiten und Überzeugungen aufeinanderprallen, stellt sich die Frage, wie

jeder Einzelne von uns mit dieser Erschütterung umgehen kann. Was kann ich tun, wenn meiner

eigenen Überzeugung diametral die eines anderen Menschen gegenübersteht, dem ich nicht

ausweichen, sondern mit dem ich mich auseinandersetzen muss, weil mein Leben mit dem seinen

durch äußere oder innere Notwendigkeit verknüpft ist? Wie stelle ich mich zu diesem Menschen,

zu seiner Wahrheit, wie aber stelle ich mich auch zu mir selbst? Im Ganzen betrachtet also läuft

das auf die Frage hinaus: Wie gestalte ich die Begegnung mit dem Anderen?

 

Dass sich mir die Frage nun in dieser Form stellt, ist wohltuend und bedrückend zugleich: Ich bin

selbst verantwortlich, für mich und für mein Zusammentreffen mit dem Anderen. Ich kann die

Verantwortung für den Teil des sozialen Lebens, in dem ich mich bewege, nicht delegieren, nicht

abwälzen. Ich muss also in mich selbst hineinsehen. Und da finde ich nun die weitere Frage:

Woher kommen eigentlich meine Wahrheiten und Überzeugungen? Wie frei und bewusst gehe

ich mit ihnen um? Und wie finde ich als Einzelne und wir als Gemeinschaft der Gattung Mensch zu

einer Wahrheit, die uns stärkt?

Wie also besiegen wir den Drachen, heutzutage, da er ein ganz anderes Bild abgibt als das

geschuppte Wesen, das die Märchen und Sagen uns präsentierten? Die Drachenfrage, heute, ist

diese: Wie finden wir zu einem sozialen Leben, in dem wir unserer Überzeugung folgen und die

des Anderen dennoch akzeptieren, sie mit unserer vermitteln, vielleicht sogar gemeinsam zu

neuen Wahrheiten finden. Und wo in uns liegen die Fähigkeit und die Bereitschaft vergraben, dies

zu tun?

Wir haben den Drachen in den anderen Menschen hineinverlegt, in den, der unser soziales Leben

stört, behindert, erschwert. Wenn wir den Drachen besiegen, der unsere eigene Vorstellung von

dem ist, was zwischen mir und dem Anderen liegt, wenn wir zu einer sozialen Form finden, in der

die Wahrheiten miteinander ins Gespräch kommen, in der sie sich verändern, bereichern,

auffächern, erweitern, dann gehen die Drachenkräfte auf uns über, in uns hinein.

 

So ist es: Wenn wir den Drachen besiegen, werden seine Kräfte in unseren sozialen Verhältnissen

wirksam.

 

Ist das eine Wahrheit, an die heute keiner mehr glaubt, weil sie ja doch nur ein Kindermärchen ist?

Oder ist unsere Angst vor der verwundbaren Stelle, die bleiben wird, einfach so groß, dass wir uns

entschieden haben, uns in diese Richtung lieber gar nicht erst bewegen zu wollen? Aber wollen

wir aus Angst vor dem Schmerz wirklich Stagnation und Rückschritt in unseren sozialen

Verhältnissen riskieren?

 

Wir erlangen die Kraft nur um den Preis der Erkenntnis. Und diese Erkenntnis ist

schmerzvoll, weil sie an unseren eigenen Grundfesten rüttelt.